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Große Bühne für die Lebenden und die Toten: Zentralfriedhof WIEN

Schon beim Betreten öffnet sich ein Tor in eine andere Welt. Hinter den schweren Eisenpforten des
Wiener Zentralfriedhofs liegt ein Reich der Ruhe, aber auch der Spiegel der Stadtgeschichte –
größer als der Vatikanstaat, ein Ort, an dem mehr Menschen begraben sind, als heute in Wien leben.
Über drei Millionen Tote ruhen hier. Und doch ist der Friedhof alles andere als ein Ort der Stille
allein: Er ist Bühne, Gedächtnis und Ausflugsziel zugleich.

Kaum ein paar Schritte, und schon tauchen die ersten großen Namen auf. Hier liegt Ludwig van
Beethoven, dort Johannes Brahms. Ihre Gräber stehen nebeneinander, flankiert von Franz Schubert
und Johann Strauß Sohn – Komponisten, die Wien zur Welthauptstadt der Musik gemacht haben.
Touristen flüstern ehrfürchtig, als stünden sie in einem Konzertsaal, nicht vor Marmor und Bronze.
Wer die weiten Alleen entlang schreitet, spürt sofort die Dimensionen. Reihen von Grabmälern
ziehen sich bis zum Horizont. Ein älteres Ehepaar drängt sich an mir vorbei, die Hände voller
Topfblumen. „Für die Oma“, sagt die Frau knapp, während der Mann nickt. Gleich daneben schiebt
ein junges Paar einen Kinderwagen über das Kopfsteinpflaster. Und hinter ihnen biegt eine Gruppe
Radfahrer in die breite Hauptallee ein, als sei der Friedhof nichts anderes als ein Velo-Park. Sie
tragen Rennkleidung und lassen mich als Staunenden schnell zurück. Mit seinen 2,5
Quadratkilometern wirkt der Zentralfriedhof eher wie ein eigener Stadtteil, ein „Stadtquartier der
Toten“ mit Alleen, Kapellen, Teichen – und erstaunlich viel Leben. Zwischen den Grabsteinen
raschelt es im Gebüsch. Ein Reh tritt hervor, bleibt einen Augenblick stehen, als wolle es die
Besucher mustern, und verschwindet dann in Richtung der nächsten Marmorfigur. Ein Stück weiter
bearbeitet ein Grünspecht den Stamm einer Kastanie. Wer hier spazieren geht, vergisst schnell, dass
er sich inmitten einer Millionenstadt befindet.

Im Komponistenrund geht man im Abstand von fünf Metern von Weltstar zu Weltstar. Bei
Beethoven verweilt man automatisch länger. Sein Grab ist nicht nur Denkmal, sondern auch von
einem leisen Geheimnis umgeben: Als man ihn im 19. Jahrhundert umbettete, stellte man fest, dass
Teile seines Schädels fehlten. Ärzte und Forscher hatten offenbar bei einer früheren Exhumierung
„Andenken“ entnommen, in der Hoffnung, das Geheimnis seines Genies im Knochenbau zu finden.
Einige dieser Schädelstücke tauchten Jahrzehnte später in Sammlungen wieder auf, andere sind bis
heute verschollen. Beethoven gab offensichtlich nicht nur seinen Zeitgenossen Rätsel auf. Ein Mann
auf einer Bank erklärt lautstark mit Wiener Schmäh seiner Tochter: „Da drüben, des is der Falco.
Rock me Amadeus, kennst eh.“ Das Mädchen kichert. Je tiefer ich auf das Feld der Toten gehe,
desto mehr entdecke ich: das Ehrengrab von Arthur Schnitzler, den Dramatiker, dessen Figuren
Wien bis heute spiegeln. Oder die letzten Ruhestätten der Schauspielerin Hedy Lamarr und des
Architekten Otto Wagner, dessen U-Bahnstationen das Stadtbild prägen. Jeder Grabstein erzählt ein
eigenes Kapitel, viele davon von Weltruhm und Weltensturz. Es ist, als würde man durch ein
aufgeschlagenes Geschichtsbuch spazieren.

Doch die Natur gibt hier immer den Takt vor. Unter den hohen Platanen rauscht der Wind,
Eichhörnchen huschen über die Wege, und zwischen den Gräbern wächst wilder Efeu. Vor einer
Kapelle sitzt eine alte Dame, entzündet eine Kerze und summt dabei leise ein Kirchenlied. Der
Wind löscht die ersten beiden Versuche, aber beim Dritten flackert die Kerze. Ein Jogger läuft
vorbei, nickt mir kurz zu und beschleunigt in Richtung Ausgang. Niemand stört sich daran – das
Nebeneinander von Trauer, Alltag und Freizeit gehört hier einfach dazu. Der Friedhof ist nicht nur
Bühne der Vergangenheit. Er ist auch ein Naherholungsgebiet – größer als alle Friedhöfe des
Südens und grüner als jeder Park in der Innenstadt. Zwischen den Mausoleen äst Rehwild, Füchse
huschen über die Wege, mehr als hundert unterschiedliche Vogelarten werden hier gezählt. Es wirkt,
als hätten sich der Stadtpark und ein Geschichtsbuch ineinander verschränkt. Es wirkt alles weniger
wie ein Friedhof, sondern vielmehr wie ein eigener Kosmos im im Planetarium Vienna.

Spätestens beim Verlassen durch das Tor versteht man, warum so viele Wiener ihren
Sonntagsausflug hierher machen. Der Zentralfriedhof ist Denkmal und Park, ist ein Tierparadies
und ein Konzertsaal der Erinnerung. Wer die Stille sucht, findet sie hier. Wer die Geschichte sucht,
wird hier genauso belohnt. Und wer einfach nur einen Spaziergang im Grünen unternehmen
möchte, ist hier mit Sicherheit nicht verkehrt.
Beim Hinausgehen bleibt kein Gefühl der Schwere. Eher das „Easy Listening“ eines Ausflugs, der
Geschichte, Natur und Wiener Schmäh miteinander einzigartig verwebt. Ein Ort, an dem die
Erinnerung an Beethoven, Falco und Brahms auf die weite Natur von Reh, Specht und Bussard
trifft.
Der Tod muss ein Wiener sein“, dichtete einst Georg Kreisler. Auf dem Zentralfriedhof versteht
man, warum: Hier wird der Tod nicht verdrängt, sondern mit einer eigentümlichen Mischung aus
Würde, Schmäh und Schönheit angenommen. Wer den Friedhof verlässt, trägt ein Stück Wien mit
hinaus – und vielleicht auch den Gedanken, dass das Leben, gerade angesichts der Vergänglichkeit,
umso mehr gefeiert werden will.

© Fotos: Wolfang Siesing, Unsplash

Wolfgang Siesing
Wolfgang Siesing, Fotograf und Autor ist in Berlin beheimatet und sucht weltweit nach den besonderen Highlights unserer Erde und zuhause vorwiegend seine Brille und Autoschlüssel.

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